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Zwei Zimmer für ein Chaos

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Lara Stoll moderiert auf ihrem vermüllten Balkon die Sendung an.
Die Slam-Poetin Lara Stoll mit dadaistischem Kostüm.
Müde, stolze Macher: Pia Meier, Lara Stoll, Cyrill Oberholzer, Dominik Wolfinger (v.l.).

So sehen Menschen im dauerhaften Ausnahmezustand aus. Lara Stolls Blick verrät gleichermassen Erschöpfung und kreative Dauer­erregung, die laut Wegbegleitern schnell auch in einen Tobsuchtsanfall übergehen kann. Da ist aber auch eine gewisse ermattete Selbstaufgabe. Sie scheint das Chaos akzeptiert zu haben. Seit über zwei Monaten wird in ihrer schattigen 2-Zimmer-Wohnung mitten im Kreis 4 beinahe ununterbrochen gearbeitet. In Stolls Wohnzimmer mit eingebauter Küche werden die Sprechaufnahmen gemacht, ihr Bett dient als zweiter Videoschneideplatz. «Ich hab derzeit keine ­Privatsphäre», sagt die 27-Jährige und erzählt, dass sie dann und wann rausrennen müsse, um einfach mal für sich allein zu sein.

Lara Stoll, bekannt als versierte Slam-Poetin, ist Teil eines Projekts, das derzeit – wenngleich auch nur in Insiderkreisen – für Furore sorgt. Die auf dem Winterthurer Spartensender SSF ausgestrahlte Sendung «Bild mit Ton» ist unschweizerisch radikal, absurd-abgründig und vor allem: grenzwertig. Oder wie es Stoll sagt: «Die Sendung hat eine Stinkefinger-Attitüde.» Hitler, Muslime, Bünzlis und Jugendliche werden satirisch durch den Fleischwolf gedreht. Nichts ist heilig. Es wird gespuckt, geflucht und gejodelt. Manchmal auch alles gleichzeitig. Der Schnitt ist rasant und folgt der Aufmerksamkeitsspanne der Zapping-Generation. Das Fundament der Episoden bildet jeweils ein Filmklassiker, der nicht mit einem Copyright versehen ist. Einzelne Sequenzen werden neu vertont. So wird aus einem chinesischen Kaiser schon mal ein Züritüütsch sprechender Sepp Blatter, der ein tolerantes Schwingfest organisiert. Dem folgt ein sprechendes Schosshündchen, das sich mit einer Gans und einer Sau in einer Bar volllaufen lässt. Ist das lustig? Oder einfach nur kindisch?

Ehrlich erschrockene Zuschauer

Jean-Claude Bruhin hat dazu eine dezidierte Meinung. Er ist Geschäftsführer des Sport- und Szenefernsehens (SSF) und sagt: «Ich bin begeistert und mag diese trashige, an Monty Python erinnernde Art. Auch wenn mir klar ist, dass diese Sendung polarisiert.» Bruhin, dessen Station ohne Konzessionsgelder sendet, erzählt, wie anfänglich selbst auf seiner Redaktion die Meinungen auseinandergegangen seien. Einige seien ehrlich erschrocken gewesen ob des abgründigen Humors. Rauchende Kinder. Tollwütige Rentner. Eine wahnsinnige Variante des Geissenpeters. Darf man das? Dabei hatte das SSF Lara Stoll ursprünglich kontaktiert, um etwas in Richtung Slam-Poetry zu machen. Aber es kam anders heraus. «Das war okay für uns», sagt Jean-Claude Bruhin. «Denn wir gaben Lara von Anfang an eine Carte ­blanche.» Dass dann die Idee aber gleich zu einem solch grossen Projekt mutieren sollte, das den Sender vor allem viel Geduld kostete, das hatte auch Bruhin nicht erwartet.

Lara Stoll ebenso wenig. «Wir waren wirklich blauäugig», sagt sie. Die Initiantin von «Bild mit Ton» sitzt im Schneidersitz auf ihrem zerknautschten Sofa und erzählt von der Anfangszeit, als sie mit der vagen Idee einer Sendung 2013 an ihre Klassenkameraden trat. Stoll absolvierte an der ZHDK den Filmlehrgang. Dominik Wolfinger, Pia Meier und Cyrill Oberholzer liessen sich schnell begeistern. Wobei es bei Letzterem vielleicht ein bisschen einfacher war. Cyrill ist Laras Freund.

Bald war das Konzept da, der Enthusiasmus gross, die Ziele der Mittzwanziger ebenso. «Wir wollten etwas machen, was noch niemand gemacht hatte.» Dass die Filmstudenten dabei ­neben ihrem Studium in ein enorm aufwendiges Projekt schlitterten, war damals keinem bewusst. «Zum Glück nicht», sagt Stoll heute. «Sonst hätten wir das niemals in Angriff genommen.» Die Neulinge im TV-Geschäft wurden von SSF mit Geld und Equipment unterstützt, das Studio durften sie ebenfalls kostenlos benutzen. Profi Bruhin schätzt, dass ohne dieses Sponsoring eine einzelne Episode von «Bild mit Ton» schnell über 50?000 Franken gekostet hätte. «Kamera, Licht, Schauspieler, Requisiten. Und so weiter. Die Kosten gehen beim Fernsehmachen halt sehr schnell in die Höhe.»

Ausnahmezustand in der Wohnung

Der Start der zweiten Staffel der Sendung war für letzten Sommer geplant gewesen. Doch die junge Truppe hatte sich komplett übernommen, die Terminplanung lief aus dem Ruder. «Wir ­waren überfordert, von Anfang an», sagt Stoll. Mehrmals wurde die Ausstrahlung verschoben. Bis die Auftraggeber schliesslich eine Deadline forderten. Das war im letzten November. Seither herrscht in der Wohnung von Lara Stoll Ausnahmezustand.

Es gab schon mal Schichten, während denen zweimal die Morgensonne aufging. Gerade gestern hat Cyrill 15 Stunden am Stück gearbeitet und im Eifer tatsächlich vergessen zu essen. Fünf Kilo habe er abgenommen, sagt er, lacht und schlurft wieder zurück in Laras Schlafzimmer – um eine Sequenz fertig zu schneiden. Pro Woche stellt das Quartett eine Episode fertig, schickt sie dem Sender zur Ausstrahlung am Montagabend, stellt sie danach auf seine Website und veranstaltet ein Public Viewing (siehe auch Box).

Der Terminplan ist eng, der Druck gross. In der zum Studio umfunktionierten Wohnung wird in diesen letzten Tagen intensiv gearbeitet, morgens um zwei Uhr hat beispielsweise ein Bekannter noch eine Sequenz eingesprochen. «Er kam direkt vom Ausgang, war sternhagelvoll, supernervös – und genial», erzählt Lara Stoll und ­lächelt zum ersten Mal. Die 27-Jährige wirkt nun sehr stolz. Und erleichtert. Sie weiss, dass bald Schluss sein wird. Noch zwei Episoden gilt es rauszuhauen. Zwei Episoden eines Werks, das Stolls Generation abbildet: rastlos, versiert mit vielen Optionen jonglierend, gerne trashig und ironisch bis zum Anschlag. Die Simpsons hätten das Quartett inspiriert, viele Trickfilme, Youtube. Auch die genredefinierende «Sendung ohne ­Namen», einst ausgestrahlt auf ORF, flimmert bei diesem Zürcher Projekt irgendwo mit.

Und wie gehts nun weiter? Ist eine dritte Staffel geplant? Laut dem SSF wäre diese höchst willkommen. Einschaltquoten sind zwar nicht zu erfahren, aber die Resonanz, insbesondere von anderen Medien, sei gut. Lara Stoll will aber nichts von einer Fortsetzung wissen. Zumindest im Moment nicht, in diesem Zustand von Mangelernährung und Übermüdung. Während Freund Cyrill sich zum Ende des Projekts auf Party und Playstation freut, sehnt sich Lara Stoll nach einem frischen Haarschnitt, neuen Kleidern und solitären Stunden zu Hause.

tipp