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Ersatzreligion Essen

Essen im Fokus: Die Messe Chefalps zieht massig Foodbegeisterte an.

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«Du bist, was du isst»: Der Werbespruch für Knäckebrot aus dem Jahr 2002 ist aktueller denn je. Immer mehr Menschen definieren sich über das, was auf ihren Tellern liegt. Die Generation Fine Food, die von den Zwanzig- bis zu den Siebzigjährigen reicht, hat sich vom funktionalen Ernährungsbild des Hauswirtschaftslehrmittels «Tiptopf» emanzipiert. Und das gründlich. Essen ist heute gleicher­massen sinnliches Erlebnis wie inspirierendes Gesprächs­thema und Statussymbol.

Im Restaurant fotogra­fieren wir inzwischen häufiger unser Menü als unsere Begleitung. Das Londoner Toplokal Fat Duck sah sich sogar genötigt, Regeln zur Mässigung dokumentierwütiger Gäste zu erlassen: Wer seine Aufnahmen mit Blitz oder im Stehen macht, fliegt.

Das Street Food Festival, das letzte Woche auf dem Dolder seine dritte Auflage erlebte, zählte etwa doppelt so viele Besucher wie das Fussball-Derby FCZ gegen GC – rund 20?000. Auch Premiumanlässe wie das Fachsymposium ChefAlps (siehe Verlosungs-Box) und das Kulinarikfestival The Epicure im Dolder Grand im September ziehen die Massen an. Diese Massen sind durchaus bereit, ein wenig tiefer in die ?Tasche zu greifen, um ihre kulinarische Neugier zu befriedigen: 185 Franken kostet der Zwei­tagespass für die diesjährige ChefAlps.

Thinktank der Kulinarik

Woher kommt diese Leidenschaft? «Das Image der kochenden Zunft hat sich in den letzten drei Jahrzehnten sukzessive gewandelt. Die überall verfügbaren Informationen, all die TV-Sendungen und die Fotos auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder in der Presse sind der Katalysator in dieser Entwicklung», sagt der Gastro­unternehmer und ChefAlps-Initiant Reto ?Mathis. «Mit der Nouvelle Cuisine stieg der gesellschaftliche Status der Köche auch ausserhalb Frankreichs. Je mehr sich die Küche vom Konservativen wegbewegte, je mehr sie provozierte und überraschte, desto fester etablierte sie sich als Gesprächs­thema.»

Die ChefAlps, die Mathis vor drei Jahren zusammen mit Adriano Pirola von der Marketing- und Kommunikationsagentur Woehrle ?Pirola aus der Taufe hob, soll deshalb in erster Linie zum Denken anregen. Der Anlass bildet eine Brücke zwischen dem genussfreudigen Volk und den internationalen Spitzenköchen, die als neue Halbgötter in Weiss auf der Bühne stehen.

«Wir wollen ein Thinktank für die Kulinarik sein, die Formel 1 des Kochens», erklärt Reto Mathis, der auch das Gourmetfestival St. Moritz leitet. «Natürlich fährt keiner mit einem Formel-1-Boliden durch die Stadt, aber die Innovationen aus dieser Rennserie stecken heute in jedem Strassen­auto. Hätte es die Querdenker in den Küchen nicht gegeben, würden wir noch heute ein Châteaubriand für den letzten Schluss der kulinarischen Weisheit halten.»

Kochen ist auch Boulevard

Mathis sagt, er lade an seine Anlässe bewusst zu einem Drittel Köche ein, die mit ihren Auftritten provozieren: «Sie erweitern den kulinarischen Horizont der Leute, und weil sie mutig für ihre Sache einstehen, motivieren sie den Nachwuchs.» Wer anecke, wecke auch auf, ermutige zu neuen Denkmustern und Küchenpraktiken. Der Co-Organisator der ChefAlps erinnert sich noch gut, wie irritiert die Leute zunächst waren, als der schwedische Küchen­avantgardist Björn Frantzén vor zwei Jahren in Zürich einen getrockneten Rentierpenis über eines seiner Gerichte raspelte. Frantzéns Beispiel zeigt: Die Protagonisten der Foodszene agieren manchmal wie die Journalisten einer Boulevardzeitung.

Gewiss ist die Spitzengastronomie nur die Speerspitze. Doch Mathis' Vergleich mit der Formel 1, die letztlich für die Masse forscht, stimmt schon. Ohne die Vorarbeit der Gourmetführer wäre auch die Street-Food-Bewegung nicht so stark. Die Sushikultur etwa brachten nicht kleine Stände und Take-aways nach Zürich, sondern das gediegene Restaurant Sala of Tokyo.

Dass sich Zürich als Hotspot im Bereich der Foodfestivals etabliert hat, ist kein Zufall. Die Menschen hier haben das nötige Geld, um die Welt zu bereisen, und leben vor allem in den Kreisen 3, 4 und 5 in einem internationalen Umfeld. «Beides Faktoren, die eine Auseinandersetzung mit fremden Einflüssen und unbekannter Esskultur fördern», betont Reto Mathis. «In dieser Hinsicht ist die Globalisierung eine gute Sache. Wir sehen Neues, transportieren es in den Alltag und werten ihn auf. Die kulinarischen Einflüsse kommen heute nicht mehr nur aus Italien oder Frankreich, sondern auch aus Skandinavien und der aktuell prägendsten Destination Südamerika. Peru, aber auch Brasilien sind hier zu nennen.»

Statt einer einzigen kulinarischen Heilslehre wie in der grossen Epoche der französischen ?Küche gibt es mittlerweile eine ganze Reihe ?interessanter Strömungen, deren Vertreter ihren 40. Geburtstag noch mehr oder weniger weit vor sich haben: Andreas Caminada in der Schweiz, René Redzepi in Dänemark, Magnus Nilsson und Björn Frantzén in Schweden oder Virgilio Martinez in Peru. Früher funktionierte der Wechsel auf dem Küchenchefposten noch wie die Erbfolge in einer Monarchie. Stellte man sich unter einem Gourmet lange einen gesetzteren Herrn vor, kommen heute sogar schon Teenager als Besucher von Food­festivals ohne weiteres infrage. Eine Studie aus den USA behauptet gar, ein beträchtlicher Teil der Jugend definiere ihren sozialen Status nicht mehr über Kleidung oder Elektronikartikel, sondern über das Essverhalten.

Weg mit plakativem Luxus

Köche und Restaurateure tragen dem Einfall der Jugend in die einstige Domäne der Älteren Rechnung, indem sie sich vom plakativen Luxus abwenden. Regionalität bei den Produkten und Klarheit in der Zubereitung sind im Sternelokal und am Street-Food-Stand gleichermassen wichtig. Beide Gastronomieformen sind nur unterschiedliche Verästelungen der gleichen Strömung. Das Publikum der ChefAlps und des voll auf Haute Cuisine ausgelegten Epicure-Festivals im Dolder Grand deckt sich in erstaunlichem Mass mit jenem des Street-Food-Anlasses.

tipp